Wirkungskreis / Ideale
Anlässlich des 300-jährigen Geburtstags Friedrich Christian Lessers hielt Herr Prof. Dr. Friedrich de Boor (*1933), Halle, am 9. Mai 1992 einen Festvortrag in Nordhausen. In diesem ging er besonders auf Lessers familiären Hintergrund, sein Umfeld und seine Ideale ein, die sein Handeln und Wirken in großem Maße beeinflusst haben:
Meine Damen und Herren,
die Bürger der bis 1802 freien Reichsstadt Nordhausen und die Nachfahren mit dem im 18. Jahrhundert so gesegneten Lesserschen Geschlechtes sind in diesen Jahre aufgefordert, anlässlich seines 300jährigen Geburtstages an 12. Mai, des Pfarrers, Historikers, und Naturforschers Friedrich Christian Lessers zu gedenken, der schon bei der Feier vor hundert Jahren zu Recht als der Chronist der Stadt Nordhausen gewürdigt worden ist.
Leider fehlt bis heute eine seiner geschichtlichen Bedeutung entsprechende, biographische Würdigung seines Lebens. Das hängt sicherlich unter anderem auch damit zusammen, dass er auf ganz unterschiedlichen Gebieten tätig gewesen ist. Und deshalb eigentlich nur in einem interdisziplinarischen Forschungsgespräch sein Werk und sein Leben sachgemäß und umfassend gewürdigt werden kann. Wir haben gestern Abend ja ein solches Gespräch versucht. Ich kann in dieser Festansprache sein Leben und Werk nur in einigen Grundzügen nachzeichnen und ich tue es als ein Theologe und Kirchenhistoriker, der von Halle aus sich mit den Anfängen des Pietismus in Deutschland in der Wende vom 17. zum 18. Jahrhundert beschäftigt hat.
Deshalb und dabei bin ich schon vor langer Zeit aus Anlass einer territorialen kirchengeschichtlichen Tagung hier in Nordhausen gewesen, nämlich 1970, als ich den Nordhäuser-Gesangbuchstreit zu würdigen hatte, der ebenfalls im 18. Jahrhundert weit über Nordhausen hinaus die Gelehrten, die Theologen aber wohl auch andere erschüttert hat. Bei der Beschäftigung mit diesem Streit bin ich auch auf Friedrich Christian Lesser gestoßen. Damals stand dem Anlass entsprechend die territorialgeschichtliche Einbindung dieses Streites im Mittelpunkt der Darstellung. Doch die damit verbundene erste Begegnung mit Lessers wissenschaftlichen Werk wurde für mich zu einen Anstoß, das Verhältnis von Pietismus und Aufklärung, von Theologie und Naturwissenschaft für mich und für meine Forschung neu zu bedenken. Ich möchte deshalb die heutige Würdigung zum Anlass nehmen, Friedrich Christian Lesser als Historiker, Pfarrer und Naturforscher im Spannungsfeld zwischen kirchlicher Tradition, gesellschaftlichem, geistigen Neuaufbruch, Pietismus und Aufklärung in dar Wende zur Neuzeit in Deutschland zu würdigen. Zunächst einiges zu dem Historiker Friedrich Christian Lesser: Leben und Werk eines Menschen sind in der Regel zumeist entscheidend durch seine Familie und das damit vorgegebene soziale, politische, geistige, religiöse Umfeld geprägt. Wir folgen deshalb durchaus den Spuren des Historikers Lesser, wenn wir uns zunächst, mit diesen Fragen seiner sozial-biographischen Geprägtheit durch seine Familie beschäftigen. Er selbst hat 1729 aus Anlass der Heirat seines Bruders eine erste genealogische Nachricht von dem (ich habe den Begriff schon einmal zitiert) „gesegneten Lesserschen Geschlecht“ vorgelegt. Und auch für die Darstellung seines Lebensweges folgen wir seinen Spuren seiner Autobiographie, die er 1735, als er aufgrund seiner naturkundlichen Forschungen auf die Akademie der Naturforscher in Halle aufgenommen wurde, in die er aus diesem Anlass, wie es sich gehört, in lateinischer und wohlabgewogener wissenschaftlicher Sprache vorgelegt hat. (…)